Sie war jetzt nun schon seit mehr als einem halben Jahr in der neuen Stadt; und dennoch schien es ihr, als sei es gestern gewesen. Sie konnte sich noch gut erinnern, sie saß gerade vor ihrem Computer in ihrem Zimmer.
Die Sonne warf die letzten Strahlen des Tages durch das Fenster. Sie chattete gerade mit ihrer Cousine in Deutschland. Dort war es im Oktober schon ziemlich kühl, man musste am Abend sogar schon einen Pullover anziehen, so etwas konnte man sich hier im Süden einfach gar nicht vorstellen, was für ein verrücktes Land. Und dort schien es auch immer zu regen. Wann immer sie mit Hülya, ihrer Cousine chattete, regnete es dort; in der Türkei regnete es nicht so oft, oder besser gesagt nie. Hülya erzählte ihr, wie sehr sie sie vermisse und die Sonne und das Meer.
Tülay war damals nicht so ganz klar gewesen, was ihr damals ihre Cousine aus dem fernen Deutschland geschrieben hatte, ihr fehle die Sonne, die Wärme der Menschen, einfach alles; heute schon. Auch sie vermisste jetzt die Sonne und das Meer und es stimmte wirklich, es regnete unheimlich viel und man musste auch wirklich oft einen Pullover anziehen.
Aber zurück zu jenem besagten frühen Abend im Oktober.
Jäh wurde sie aus ihrem Gespräch mit der fernen Cousine gerissen.
„Kann ich dich kurz stören?“
„Ja, natürlich, einen Moment, bitte!“
Schnell tippte sie in den Computer, dass sie in ein paar Minuten wieder zurück sei, denn ihre Mutter war gerade in ihr Zimmer gekommen.
„Moment,“ meinte Tülay.
Ihre Mutter setzte sich auf ihr Bett. Sie saß bedrückt aus.
„Was gibt es denn?“
„Ich muss mit dir sprechen!“
„Nur zu.“
„Du weißt, dass seit dem Tod deines Vaters alles anders geworden ist.“
„Ja, ich weiß.“
Plötzlich wurde sie in die Realität zurückgeholt und daran erinnert, dass ihr Vater vor einem Jahr nach einer langen Krankheit gestorben war und die Familie in immer größere Nöte geraten war. Finanziell schien es immer weiter bergab zu gehen. Die Mutter hatte mit Hilfe kleiner Tätigkeit versucht, die Familie über Wasser zu halten. Sie arbeitete jetzt als Verkäuferin in einer Bäckerei und ging nebenher sogar putzen. Aber es war zunehmend schwerer geworden. Vor einigen Monaten nun hatte die Mutter einen Mann kennengelernt, der ihr finanziell unter die Arme griff. So gut dies für ihre Mutter war, so katastrophal war dies für sie selbst. Seit dieser Mann in die Familie, oder besser gesagt, in das, was von ihr nach dem Tod des Vaters noch übrig geblieben war getreten war, hatten sich Mutter und Tochter immer weiter voneinander entfernt. Es schien beinahe so, als ob sie das neue Glück des Paares stören würde. Obwohl ihre Mutter das nie gesagt hatte, kam es ihr dennoch so vor. Andererseits hatte sich die Mutter auch nur wegen ihr und wegen ihrer Zukunft auf die Suche nach einem neuen Mann gemacht. Vor dem Tode ihres Vaters waren sie eine sehr glückliche Familie gewesen.
„Tülay, meine Tochter.“
Tülay sah ihre Mutter an. Sie sah sehr bedrückt aus, sie hatte niemals in diesem Ton zu ihr gesprochen.
„Ja, Mama.“
Sie ahnte, dass ihr ihre Mutter gleich etwas Schreckliches verkünden würde.
„Mein Kind, du darfst jetzt nicht böse sein.“
Tülay schwieg. Sie nickte.
„Du wirst heiraten.“
Es war, wie wenn ihr Kopf plötzlich explodieren wollte. Sie wollte schreien und weinen, aber sie konnte es nicht.
„Mama. Das geht doch nicht!“
Ihrer Mutter standen Tränen in den Augen.
„Mama!“
„Nächste Woche, ich und Hasan, dein neuer Vater, haben entschieden, dass das so besser für uns ist?“
„Und ich?“
Sie konnte einfach nicht heiraten, sie hatte noch so viel vor. Es ging nicht. Sie wollte studieren, reisen...
„Seid ihr verrückt, wie kommt ihr denn auf so etwas? Ich kann nicht, ich muss...“
„Nein, wir haben das so entschieden, wir haben lange darüber nachgedacht, wir sind überzeugt, dass dies das Beste für uns alle ist.“
Nächste Woche, nächste Woche, nächste Woche, die beiden Worten erschienen ihr wie zwei Hände, die ihr die Luft zum Atmen nahmen.
„Mama, ich will nicht!!! Versteh das doch!“
Ihre Mutter verließ das Zimmer. Unter Tränen.
Eine Woche lang hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen. Ihre Mutter war nie wieder zu ihr gekommen.
Dann kam der große Tag.
Noch immer konnte sie es nicht glauben, doch sie war zu schwach gewesen, um sich zu wehren. Alles wie schien ein Alptraum und sie konnte nichts dagegen machen. Sie war wie in Trance. Alles um sie herum schien sich zu drehen. Ihre geschäftige, stumme Mutter, das Brautkleid, die Menschen.
Ein Mann kam herein, war das ihr Mann? Sie konnte das Gesicht nicht erkennen. Wer war er? Alles begann sich wieder zu drehen. Wer war er?
Mehmet. Mehmet, war sein Name. Woher war er gekommen? Was war er? Was hatte er normalerweise gemacht? Auf all diese Fragen hatte sie bis heute keine Frage gefunden.
Alles hatte sie widerstandslos über sich ergehen lassen. Jäh, war sie aus ihrer Kindheit herausgerissen worden. Wie, um Himmels Willen war sie in diese Situation geraten? Bis heute fragte sie sich, warum sie denn heiraten hatte sollen. Wessen Schuld war es? Sie war noch so jung.
Ihr ganzes Leben lang war ihre Mutter für sie da gewesen. Seit aber dieser Mann in ihre Familie gekommen war, fühlte sie sich immer mehr fehl am Platz. Jemand war in ihr Haus, in ihre Familie eingedrungen. Ein Fremder hatte ihren Platz eingenommen, aber nicht nur ihren Platz im Haus, sondern vor allem ihren Platz im Herzen ihrer Mutter. Auf diese Weise fühlte sie sich gleich doppelt heimatlos. Heimatlos.
Dann kam die Hochzeit. Sie fand sich in einem großen Saal wieder. Menschenmassen waren dort. Alle schienen sich zu kennen, sich zu freuen. Sie wurde an einen Tisch gesetzt, dort saß sie nun. Laute Musik. Mehr und mehr Leute kamen, Verwandte, Bekannte, Fremde. So viele Leute.
Neben ihr saß ihr Bräutigam. Bis heute kann sie sich nicht an ihn erinnern.
Aus einer Box dröhnte laute Musik. Die Musik war rhythmisch. Eigentlich liebte Tülay diese Art von rhythmischer Musik. Der ganze Saal schien sich zu bewegen, alle im gleichen schnellen orientalischen Rhythmus. Die Männer und Frauen tanzten, wogten. Schnell, laut und schrill.
„Aşkım, tanz mit mir!“
Hand in Hand schritt sie mit dem fremden Mann zur Tanzfläche. Wie ein Ehepaar. Sie waren ein Ehepaar. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was um sie herum geschah. Sie musste weg, schnell weg.
Da war die rhythmische Musik. Sie hörte die alten Weisen ihrer Heimat.
„Aşkım...!“ klang es aus den Lautsprechern. Sie war wie in Trance, alles drehte sich, die Menschen. Es erkannte nichts richtig. Alles um sie herum erschien ihr wie die Fetzen einer Welt, die gerade in die Brüche ging. Eine Welt, in der sie aber gerade noch tanzte, eine Welt, zu der und in die sie gehört.
Was sollte sie denn an einem anderen Ort, in einer anderen Stadt, weit weg von hier. Von ihrer Familie, ihrem Mann; nein...
Sie musste fort, das stand fest. Aber dann hörte sie wieder diese schöne alte, schwere Musik. Diese Musik gehörte zu ihr, genauso, wie sie zu ihr gehörte. Die Musik ihrer Kindheit.
„Aşkım...!“
„Nereye?“ Wohin sollte sie denn. Sie konnte nicht denken, sie tanzte ja immer fort. Ihr Kleid war bereits der Sitte nach mit Geldscheinen bedeckt. Und sie tanzte.
„Aşkım...!“
Alles drehte sich. Wann sollte das nur ein Ende haben? Was sollte sie machen. Sie war verzweifelt, doch sie tanzte immer weiter.
Sie konnte sich nicht genau erinnern wie sie in seinem Schlafzimmer gekommen war. Noch immer trug das Kleid, ihr Hochzeitskleid. Nun saß sie da. Das meiste Geld, das an ihr gehangen war, war wieder von ihr abgenommen worden.
Er beugte sich über sie. Jetzt kam es. Sie wollte nicht, sie war nicht bereit dazu. Sie stieß ihn sanft von sich.
„Was?“
„Einen Augenblick. Ich muss kurz ins Badezimmer.“
Hastig rannte sie weg vom Bett, hin in Richtung des Bad.
„Ich komme gleich wieder,“ rief sie.
Kaum im Badezimmer angekommen, riss sie sich das verhasste und doch so schöne Brautkleid vom Körper. Aber was anziehen? In einer Ecke entdeckte sie eine Hose. Schnell zog sie sie sich an. Geschaftt, was nun?
Wie von der Tarantel gestochen, rannte sie aus dem Raum. Nichts wie weg, aber wohin? Ihr Mann lag auf dem Bett.
„Schatz, wo willst du denn hin?“
Sie rannte zur Schlafzimmertür hinaus. Aus lauter Panik wäre sie dabei fast über einen Teppich gestolpert, der dort lag. Nichts wie weg.
Jetzt verstand ihr Mann wohl auch so langsam, was hier geschah. Er schnellte vom Bett hoch und versuchte sie einzuholen. Doch sie war schneller. Von Angst und Panik getrieben, stürzten sie die Treppen hinunter auf die Straße.
„Hey, was soll das? Wo willst du hin?“
Tülay hörte das und das trieb sie noch mehr an.
„Bleib stehen!“
Aber genau das würde sie auf keinen Fall tun.
Sie rannte aus dem Haus auf die offene Straße. Was nun? Die einzige Chance, die sie hatte, war die Straße. Endlich aus dem Haus raste sie die Straße hinunter, zu einer anderen Straße, einer größeren. Ein Taxi, ein Taxi. Sie hob ihren Arm, winkte. Der Wagen hielt, geschafft. Endlich –
Endlich – endlich was? Aber was nun? Was sollte als nächstes geschehen? Sie hatte keine Ahnung. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie da gemacht hatte, aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Was sie getan hatte, war endgültig.
Sie begann zu schluchzen; der Taxifahrer sah sie verwirrt an.
„Hey, meine Süße! Was ist denn los?“
„Oh, das ist eine lange Geschichte...“
Sie wollte jetzt mit niemandem sprechen. Der Taxifahrer versuchte geradezu ihr aus der Nase zu ziehen, was ihr zugestoßen war. Es war wohl unübersehbar, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte.
„Wohin willst du denn?“
„...Zum Bahnhof!“
„Willst verreisen?“
„Ja, nach Deutschland, zu meiner Cousine.“
„So, in diesem Aufzug?“
„Ja, wieso nicht?“
„Ich meine in Deutschland ist es kalt, willst du so ganz ohne Jacke im T-Shirt? Du hast ja auch gar kein Gepäck bei dir!“
„Ja.“
„Was willst du dort?“
Wenn sie das gewusst hätte, dann wäre sie schon einen wichtigen Schritt weiter.
„Zu meiner Cousine, hab ich doch gesagt.“
Sie hatte Angst, große Angst, eigentlich wollte sie gar nicht nach Deutschland, sie wollte eigentlich nur weg. Hier im Taxi hatte sich also ihr weiteres Schicksal entschieden. Sie hatte einfach kurzer Hand entschieden, nach Deutschland zu fahren. Deutschland, wo war das eigentlich genau? Was wollte sie dort?
Ihre Cousine hatte ihr so viel über das Land geschrieben, aber... das war jetzt alles so fern.
„Da wären wir! Wir sind am Bahnhof.“
Hastig bezahlte sie das Taxi und stürzte in Richtung der großen Bahnhofshalle. Im Bahnhof angekommen eilte sie zum Schalter.
„Ein Ticket, ein Ticket nach Deutschland, bitte!“
sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie der Fahrkartenverkäufer angesehen hatte. Er war wohl sehr verwundert gewesen, aber schließlich hatte er ihr dann doch eine Fahrkarte verkauft...
Noch verwunderter war sie aber gewesen, als sie dann in Deutschland angekommen war. Alles schien so fremd zu sein, grau, alles war so anders als sie es immer vorgestellt hatte, als es ihre Cousine immer erzählt hatte.
Ihre Cousine hatte vor Freude geschrien, als sie sie am Bahnhof abgeholt hatte.
„Du musst mir alles erzählen!“
Doch Tülay war es gar nicht nach erzählen. Sie hatte ein so schlechtes Gefühl. Sie fühlte sich einfach nur abgerissen, als sie aus dem Zug ausstiegen war. Jetzt war sie also hier, in Deutschland. Aber was sollte sie in Deutschland.
Tagelang hatten sie über das Erlebte gesprochen, langsam wurde Tülay klar, was sie verloren hatte und was nun auf sie zukommen würde. Sie konnte vielleicht nie mehr zurück. Sie hatte ihren Mann verlassen, ihn bloß gestellt, sie hatte aber auch ihre eigene Mutter bloß gestellt und das war noch schlimmer. Ihre arme Mutter. Was war nur in sie gefahren gewesen. Wie hatte ihre glückliche Kindheit so ein jähes Ende finden können.
Deutschland war dann ein Sprung in die trübe Realität gewesen. Sie hatte das Licht des Mittelmeers gegen die graue Realität des Nordens getauscht. Am Anfang war ihr das nicht so sehr aufgefallen, zu stark war noch immer der Eindruck der misslungenen Hochzeit und ihrer völlig überstürzten Flucht.
Langsam, ganz langsam war sie in der Realität angekommen, in einer harten, grauen Realität. Deutschland, das Land ihrer Träume. Plötzlich war sie hier, aber was wollte sie hier eigentlich? Daran hätte sie früher denken sollen, jetzt war es ohnehin zu spät dafür, sie musste weiter machen. Die erste Herausforderung war die neue Sprache gewesen. Jeden Tag besuchte sie nun einen Deutschkurs. Es war einfach schwer, aber die Sprache war wahrscheinlich eines der kleinsten Probleme. Hier war sie ganz zuversichtlich, das würde sie sicher eines Tages hinbekommen. Tülay hatte irgendwann begonnen, sich an die neue Situation zu gewöhnen.
Sogar an ihren Job. Putzen. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass sie eines Tages ihren Lebensunterhalt mit Putzen verdienen sollte. Seit endlich klar war, dass bleiben durfte konnte sie an die Zukunft denken. Das erste, was ihr dabei einfiel, war, dass sie selbständig werden wollte. Sie wollte studieren und eine richtige Arbeit finden. Nicht so wie jetzt.
Jeden Tag besuchte sie deshalb einen Sprachkurs. Sie wollte Deutsch lernen, ohne würde sie hier niemals ankommen, aber manchmal half dieser gute Vorsatz nichts, sie war einfach zu müde, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Dann konnte sie sich einfach nicht konzentrieren, beim besten Willen, es ging einfach nicht, unmöglich.
Müde und dennoch verträumt sah einen chiquen jungen Mann, der ihr gegenübersaß. Er trug einen dunklen Anzug, kam wohl gerade von der Arbeit; er hatte es geschafft.
Mehr Informationen unter: info@longua.org
Sprachkurse in Deutschland: München, Berlin, Hamburg
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Reisen: Agrigento, Augsburg, Beijing, Calabria, Catania, Cefalù, China, Chinesische Mauer, Deutschland, Foshan, Guangzhou, Hamburg, Hong Kong, Italien, Marken / Marche, Macau, Neapel, Kalabrien, Peking, Shanghai, Shenzhen, Sizilien, Xiamen, Malta, Sliema
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